passage2011 ein aktionistisches, transalpines Drama
Das Unterfangen ist von Hoffnung getragen: Ein selbstgebautes Boot wird mit den
bloßen Händen der Künstler über die Alpen gezogen. Neo-romantisches Streben und
sysiphoshafte Anstrengung charakterisieren die Aktion, deren scheinbares Ziel es
ist, rechtzeitig zum bedeutendsten Kunstevent der Welt, zur Biennale von Venedig,
das Boot in der Lagune zu Wasser zu lassen, um schließlich in einer triumphalen
Fahrt durch den Canale Grande, den Sieg der Kunst über die Natur zu feiern - oder dramatisch zu scheitern.
Der Weg ist mühsam und wird auch den erfahrenen Bergsteiger physisch und mental
alles abverlangen.
Den Hauptteil der mehrwöchigen Aktion bildet die fußläufige Überquerung des Alpenhauptkammes.
passage2011 ist offizielles Projekt der 54. Internationalen Kunstausstellung - La Biennale di Venezia. Dort wird die Aktion durch
tägliche Expeditionsprotokolle in Bild und Schrift dokumentiert werden.
Es entsteht eine Serie von Fotografien sowie eine filmische Arbeit, die zusammen mit
dem Boot präsentiert werden sollen.
Die Aktion folgt dem Aufbau des klassischen Dramas, das entweder in der Katastrophe
oder der Apotheose enden wird. Der Blick richtet sich auf die Helden und ihr faktisches
und doch metaphorisches Tun. Im Zentrum steht die Kunst, die sich einerseits im selbstgebauten
Boot (im Sinn einer Skulptur) bzw. in der Aktion selbst manifestiert. Sie ist dabei aber
nur Platzhalter für das Streben des Menschen nach eigener Überhöhung, die – früher oder
später – nur in der Katastrophe oder der Erlösung enden kann.
Der Weg
Auf einem herkömmlichen Bootsanhänger und einem Zugfahrzeug führt der Weg des im
Münchner Atelier gerfertigten Bootes in die Zillertaler Alpen zum Furtschaglboden.
Ab hier wird in vielen schwierigen Tagesetappen das Schiff per Hand über den Schlegeisgletscher
bis hinauf zum Nevessattel auf 3029m ü.NN gezogen. Mit etwa 180kg Gewicht,
5m Länge und 2m Höhe kann das Boot von den beiden Künstlern bis zu einer leichten
Hangneigung langsam und mit vielen Pausen gezogen werden. Über steilere und heikle
Passagen muss mit "ägyptischen" Tricks improvisiert oder mit Bergseilen ein Flaschenzug
gebaut werden.Die Passhöhe Nevessattel markiert gleichzeitig die
Überschreitung des Alpenhaupt-kammes und den
Grenzübergang nach Italien.
Auf ihrer Südseite muss das Objekt etwa 80m senkrecht
abgeseilt werden um dann über mäßig steile
Hänge ins Lappachtal gezogen bzw. abgeseilt zu
werden.
Am Lago di Neves auf 1860 ü.NN wird das Boot wieder
verladen und auf Straßen weitertransportiert, um
schließlich in Venedig zu Wasser gelassen zu werden.
Bezug
In seiner zentralen Handlung nimmt die Arbeit Bezug zu Werner Herzogs Filmklassiker "Fitzcarraldo":
War es dort der Plan ein Dampfschiff über einen Berg zu bringen, um im peruanischen
Dschungel schließlich ein Opernhaus – Sinnbild des Sieges westlicher Kultur über
die primitive Natur – zu errichten, so ist es hier der scheinbar noch sinnlosere Akt, das zwischen
Kunstobjekt und funktionalem Vehikel vagabundierende Boot nach Venedig, den Ort
maximaler kultureller Verdichtung zu bringen. In ihrer Hybris, der anmaßenden Selbstüberhöhung,
lassen sich beide Vorhaben miteinander vergleichen, und es wird abzuwarten sein,
ob beide auch gleichermaßen scheitern werden.
28 Jahre nach Herzogs Film und 130 Jahre nach der authentischen Expedition Isaias Fermin Fitzcarrald eröffnet diese Interpretation vielschichtige neue Assoziationen auf unterschiedlichen semantischen Ebenen (etwa Noah, Sisyphos und Hannibal) zum historischen nordund südalpinen Kulturtransfer sowie zu prinzipiellen existenziellen Aspekten der Kunstproduktion und einer daraus erwachsenden zeitkritischen Auseinandersetzung: Die Künstler sehen die absurde Aktion auch als ironisches Statement auf die im Kunstmarkt gängige Praxis, opulente Kunstwerke, unter Inkaufnahme einer haarsträubenden Ökobilanz, von Messe zu Messe und Biennale zu Biennale zu verfrachten.
Künstler: GÆG Wolfgang Aichner / Thomas Huber
Die Künstler agieren aus einem alpinistischen Hintergrund mit langjähriger Erfahrung und
der aus beiden Beschäftigungen gewonnenen Faszination von Grenzüberschreitungen.
GÆG steht für "Global Aesthetic Genetics" und wird mit dem nordischen Æ geschrieben –
eine Reminiszenz an das gemeinsame Eissturmerlebnis auf dem isländischen Vatnajokull
1988, das beide nur knapp überlebten. Erst 2005 taten beide sich als Künstler zusammen
und begannen gemeinsame Projekte. Es entstanden zahlreiche Konzepte, die zu einigen erfolgreichen
Realisierungen führten wie "tilia inflata" und "silva inflata" 2005, "freunde" 2006, "wertaustausch" 2006, "innside" 2008 – 2010 und "bunter abend" 2011. Neben Kunst am Bau
liegt der Schwerpunkt des gemeinsamen Schaffens in Installation, Video und Aktionskunst.
Dokumentation (Film/Foto): Matthias Fuchs
Kurator:
Christian Schoen
Der promovierte Kunsthistoriker ist international erfahrener
Kurator und Autor. Zwischen 2005-2010
leitete er das Center for Icelandic Art und war Kommissar
des isländischen Pavillons auf der Venedig
Biennale 2007 und 2009. Zuvor kuratierte er
die Städtische Kunsthalle lothringer13 in München
(2000-2003) und seit 2001 leitet er die Osram Art
Projects. Schoen lehrt an der Universität St. Gallen
und ist Autor zahlreicher Publikationen in den Bereichen
alte und zeitgenössische Kunst, Medienkunst
und Kunst im öffentlichen Raum.